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Das Europäische Zentrum für Presse und Medienfreiheit (ECPMF) hat im Jahr 2020 in Deutschland eine deutliche Zunahme von Aggressionen durch Demonstrierende gegen Journalist:innen und Medienschaffende während der Berichterstattung zu Demonstrationen beobachtet.
Dazu kommt häufig das Versagen der Polizei, sie vor physischen und verbalen Angriffen während Demonstrationen zu schützen. Das folgende Briefing soll einen Überblick über die Situation in Deutschland geben. Es zeigt, dass sich die Lage im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie verschlechtert hat und dass Veränderungen notwendig sind, um diese Situation zu verbessern. Das Verhältnis zwischen Medienschaffenden und der Polizei ist von Konflikten und Unsicherheiten geprägt. Deshalb werden in diesem Briefing auch Handlungsempfehlungen für die Polizei ausgesprochen.
Überblick über die Angriffe in Deutschland
Seit seiner Gründung im Juni 2015 in Leipzig beobachtet, überprüft und veröffentlicht das Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit systematisch Übergriffe auf Journalist:innen und Medienschaffende. Diese werden auf der Plattform Mapping Media Freedom (MMF) des Zentrums veröffentlicht. Seit März 2020 wird die Überwachung auf dieser Plattform durch das Projekt Media Freedom Rapid Response (MFRR) durchgeführt, ein europaweites Netzwerk, zu dem auch das ECPMF gehört. Das ECPMF veröffentlicht zudem seit fünf Jahren unter dem Titel “Feindbild” eine jährliche Studie über deutschlandweite Verletzungen der Presse- und Medienfreiheit.
Im Jahr 2020 ist die Zahl der Übergriffe sprunghaft angestiegen. Damit einher geht die mangelnde Unterstützung durch die Polizei, deren Aufgabe es ist, Journalist:innen zu schützen und ihnen die Ausübung ihrer Arbeit zu ermöglichen.
Am 7. November 2020 nahmen über 30.000 Demonstrierende in Leipzig an einer Protestkundgebung gegen die Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie teil. Die Organisatoren des Marsches griffen das Erbe der Montagsproteste von 1989-90 und der Friedlichen Revolution auf, um die Beteiligung der Öffentlichkeit zu fördern.
In diesem Briefing werden die Leipziger Proteste näher beleuchtet, wobei der Fokus auf der Art und Schwere der Angriffe und Drohungen gegen Journalist:innen und Medienschaffende sowie auf vorherige Proteste gegen COVID-19-Maßnahmen gelegt wird, die an verschiedenen Orten in Deutschland stattgefunden haben. Diese werden in einen breiteren europaweiten Kontext eingebettet, da Demonstrationen und Proteste nach wie vor eine der gefährlichsten Situationen darstellen, über die Journalist:innen und Medienschaffende im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit berichten.
Quellen und Arten von Bedrohungen
Die klare Mehrheit der überprüften Situationen handelt es sich um Vorfälle, bei der die Pressefreiheit durch zwei verschiedenen Quellen bedroht wurde: Protestierende und Polizeibeamt:innen. Dies ist ein Trend, den wir in ganz Europa beobachten. Die Verschiedenheit dieser beiden Quellen erfordert für beide gezielte Aufmerksamkeit durch Medien, Kontrollstellen und staatliche Stellen.
Das MFRR hat Informationen von lokalen Partnern wie dem Deutschen Journalisten-Verband (DJV) und der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju in ver.di), Berichte von anwesende Journalist:innen und Medienschaffenden und andere Quellen zusammengeführt, die in 19 verschiedene Meldungen resultieren. Diese wurden in Zusammenarbeit mit den MFRR-Partnerorganisationen verifiziert und auf Mapping Media Freedom eingetragen und veröffentlicht. Hier waren insgesamt 37 Journalist:innen und Medienschaffende am 7. November betroffen. Die Zahlen enthalten nicht die Übergriffe, die während kleinerer Demonstrationen am 6. Und 8. November passiert sind. Die dju in ver.di identifizierte selbst 43 Fälle von Journalist:innen, die während der Proteste an der Ausübung ihrer Arbeit gehindert wurden.
Wir haben 15 Fälle von Drohungen gegen Medienschaffende durch Einzelpersonen, wie Demonstrierende, fünf durch Polizeibeamte verzeichnet und eine durch private Sicherheitsdienste. Dabei handelte es sich um folgende Arten von Drohungen gegen Medienschaffende:
- Einschüchterung: 9
- Diskreditierung: 4
- körperliche Übergriffe, ohne Verletzung: 4
- unbegründete Verweigerung der Akkreditierung oder Registrierung (einschließlich blockierter Zugang): 3
- Beleidigung/Misshandlung: 3
- körperliche Übergriffe, mit Verletzungen: 2
- Online-Mobbing/Trolling: 2
- Belästigung: 1
- Angriff auf/Bedrohung von persönlichem Eigentum: 1
Die Demonstration in Leipzig ist jedoch nicht die einzige Demonstration, bei der Journalist:innen und Medienschaffende das Ziel von Angriffen waren, wie die folgenden Statistiken aus unserem Monitoring-Projekt Mapping Media Freedom zeigen:
Europa (EU-Mitgliedstaaten und Beitrittskandidaten)
- In Zusammenhang mit Covid-19: 86 Pressefreiheitsverletzungen (dies entspricht 26,5% aller Pressefreiheitsverletzungen in Europa im Jahr 2020)
- Innerhalb dieser Vorfälle: 46 Mal, d.h. 53,5%, wurde “Privatperson(en)” als Quelle der Übergriffe angegeben, des weiteren wurde “Polizei/Staatssicherheit” 22 Mal (25,6%) als Quelle genannt.
Deutschland
- In Zusammenhang mit Covid-19: 31 Pressefreiheitsverletzungen (dies sind 62% aller Pressefreiheitsverletzungen in Deutschland im Jahr 2020)
- Innerhalb dieser Vorfälle: 25 Mal, d.h. 80,6%, wurde “Privatperson(en)” als Quelle der Übergriffe angegeben, des weiteren wurde “Polizei/Staatssicherheit” 7 Mal (22,6%) als Quelle genannt
Achtung! Da für einen Eintrag mehrere Quellen ausgewählt worden sein können, summiert sich dies zu mehr als 100%.
Daher gilt es, die detaillierte Beschreibung der einzelnen Meldungen zu beachten.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Demonstrationen der gefährlichste Ort für Journalist:innen und Medienschaffende in Deutschland sind.
Der Einfluss von COVID-19 auf die Presse- und Medienfreiheit
Seit Beginn der Covid-19-Pandemie und seitdem die deutsche Regierung Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus ergriffen hat, haben im ganzen Land zahlreiche Demonstrationen gegen diese Maßnahmen stattgefunden. Während der Demonstrationen kam es zu zahlreichen Angriffen auf Journalist:innen und Medienschaffende. Viele der Proteste wurden von der Organisation Querdenken organisiert.
Neben Bürger:innen aus der breiteren Gesellschaft nahmen an den Protesten zunehmend auch Rechtsextremisten und Neonazis teil. Während der Covid-19-Pandemie erlebten Journalist:innen und Medienschaffende eine Reihe von physischen und verbalen Angriffen, darunter auch Morddrohungen. Die Coronapandemie verstärkt den Hass gegen Journalist:innen, während die Gruppe der Täter vielfältiger denn je ist.