Zentrale Ergebnisse der Studie
Die Zahl der physischen Angriffe auf Journalist:innen stieg im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2022 wieder an. Nach 56 Fällen im Jahr 2022 verifizierte das ECPMF für 2023 69 Fälle von physischen Angriffen auf Journalist:innen. Seit nun mehr vier Jahren befinden sich die jährlichen Zahlen von Angriffen auf Journalist:innen verglichen mit dem Aufkommen vor der Corona-Pandemie – durchschnittlich rund 23 Fälle pro Jahr zwischen 2015 und 2019 – auf einem hohen Niveau. Die Annahme, dass mit der Marginalisierung der Querdenker:innen-Bewegung und dem damit gekoppelten abnehmenden Versammlungsaufkommen auch die Zahl der Angriffe auf Journalist:innen in Deutschland sinkt, hat sich nicht bestätigt.
„Zwar ist die Zahl der Angriffe in diesem Zusammenhang rückläufig. Die Zahlen der Feindbildstudien legen jedoch nahe, dass sich in bestimmten, sich teilweise überschneidenden Milieus und daraus resultierenden gemeinsamen Proteststrukturen das Medienmisstrauen zunehmend zu einer Medienfeindlichkeit entwickelt hat, die auch eine immer stärker ausgeprägte verhaltensbezogene Seite aufweist. Medienfeindlichkeit äußert sich nicht mehr ‚nur‘ in den mittlerweile zum Alltag von Journalist:innen gehörenden „Lügenpresse“-Rufen, Beleidigungen und Bedrohungen, sondern seit vier Jahren auch in einer erhöhten Zahl gewalttätiger Übergriffe auf Journalist:innen“, sagt Patrick Peltz, Co-Autor der Studie.
Berlin löst Sachsen als Spitzenreiter für 2023 bei den tätlichen Angriffen auf Journalist:innen im Vergleich zum Vorjahr ab. Zwar verzeichnet Sachsen mit 13 Fällen mehr als im Vorjahr (11 Fälle), jedoch weist Berlin mit 25 tätlichen Angriffen einen deutlich höheren Wert auf. Von den 25 Fällen ereigneten sich 21 im Umfeld pro-palästinensischer Demonstrationen. Danach folgt Bayern mit sechs Fällen.
Fokus Lokaljournalismus: Sicherheitsbedenken wirken sich auf kritische Berichterstattung aus
In Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) hat das ECPMF auch im vergangenen Jahr die Bedrohungslage des Lokaljournalismus beobachtet. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl physischer Angriffe auf Lokaljournalist:innen gesunken. Insgesamt wurden sieben physische und acht nicht-physische Angriffe registriert. Im Jahr 2022 lag die Anzahl physischer Angriffe noch bei 12. Einige der Lokaljournalist:innen, die 2023 Ziel von physischen und nicht-physischen Angriffen wurden, waren auch in der Vergangenheit betroffen. Bereits in der letzten Studie wurde darauf hingewiesen, das fehlende Anonymität im Lokalen ein Sicherheitsproblem für Lokaljournalist:innen darstellen kann.
In einer näheren Analyse des Bundeslandes Sachsen, welches seit 2015 insgesamt ein Drittel aller registrierten Fälle (117 von 390) auf sich vereint, zeigt sich zudem ein bisher unterbelichtetes Phänomen: Selbstzensur. Lokaljournalist:innen, die dort tätig sind, wo extrem rechte Raumaneignung im Lokalen erheblich fortgeschritten ist und in die sogenannte Mitte der Gesellschaft hineinreicht, berichten davon, dass gewisse Themen vor Ort aufgrund einer wahrgenommenen permanent Bedrohungslage ausgespart würden.
„Erzählungen von Lokaljournalist:innen, dass sie selbst oder Kolleg:innen aus Sorge um ihre Sicherheit teilweise nicht über bestimmte Akteur:innen und Bewegungen berichten, ist eine sehr bedenkliche Entwicklung für die Pressefreiheit in Deutschland. Insbesondere vor den anstehenden Kommunal-, Landtags- und Europawahlen in diesem Jahr in Sachsen, bei denen zahlreiche Rechtsextreme antreten, ist eine kritische Berichterstattung enorm wichtig. ‚Blinde Flecken‘ in der Berichterstattung erleichtern es diesen Akteur:innen, sich als harmlose und fürsorgliche Kandidat:innen darzustellen und so Anschlussfähigkeit bei Menschen herzustellen, die sich von den etablierten Parteien im Stich gelassen fühlen“, so Patrick Peltz.
Darüber hinaus sollte unbedingt weiter erforscht werden, wie ausgeprägt das Phänomen der Selbstzensur bereits ist und inwieweit sich diese Erfahrungsberichte auch auf andere Regionen in Sachsen und anderen Bundesländern generalisieren lassen, in denen die rechtsextreme Raumaneignung ebenfalls ausgeprägt ist und ein entsprechendes Wählermilieu sehr dominant ist.
Schwerpunkt Gegenmaßnahmen
Journalist:innen, Verbände, Medienhäuser und auch viele staatliche Institutionen haben inzwischen als Reaktion auf die gestiegene Bedrohungslage in den letzten Jahren Gegenmaßnahmen entwickelt. Teilweise sind Lerneffekte zu beobachten. Während beispielsweise immer mehr Medienhäuser ihren Mitarbeiter:innen psychologische Beratungsangebote anbieten, initiieren Vereine und Verbände fortwährend neue Hilfsangebote, wie z.B. im vergangenen Jahr das Projekt Helpline. Auch der polizeiliche Medienschutz hat sich insgesamt tendenziell verbessert, wenngleich dessen Qualität sehr unterschiedlich ausfallen kann. Die Gremien der Innenministerkonferenz befürworten nach wie vor eine Neufassung der Verhaltensgrundsätze für Polizei und Medien. Immer wieder berichten Journalist:innen von Fällen, in denen sie nicht ausreichend geschützt oder selbst Ziel polizeilicher Maßnahmen wurden. Insgesamt besteht nach wie vor erheblicher Bedarf, existierende Angebote zu verbessern und weitere zu schaffen.
„Auch wenn wir an vielen Stellen – sowohl von staatlicher als auch von nichtstaatlicher Seite – Verbesserungen erkennen, gibt es immer noch erhebliche Schutz- und Unterstützungslücken. Diese beeinträchtigen besonders frei berufliche Journalist:innen, die vor allem von den Schutzstrukturen der Medienhäuser oft nicht zu profitieren scheinen. Gleichzeitig sind sie es aber die überproportional von tätlichen Angriffen betroffen sind“, so Alina Haynert, Co-Autorin der Studie.
Im Jahr 2023 waren in 41 von 69 Fällen freiberuflich arbeitende Journalist:innen betroffen.